Ein Mikrokosmos aus Licht und Raum | von Alessandra Coppa

Sandra Barclay und Jean Pierre Crousse stammen aus Lima in Peru und sind nicht nur privat und professionell ein Paar, sondern sind auch den gleichen Bildungsweg gegangen. Im Anschluss an ihren Abschluss an der Hochschule Ricardo Palma in Lima beschließen sie nach Paris zu ziehen, um dort den strengen rationalen Formansatz nach Le Corbusier gepaart mit der organischen Struktur finnischer Architektur von Alva Aalto, dem italienischen Mittelalter, der Renaissance und dem Rationalismus von Como, dem Ansatz von Siza aus Portugal und des klassischen Griechenlands zu erforschen.

1994 eröffnen sie in Paris ein Architekturbüro und beginnen mit der Planung unterschiedlichster Projekte, die von sozialem Wohnungsbau zu Privatwohnungen, Bürohäusern, Pferderennbahnen und Rathäusern spannen.

Gleichzeitig laufen verstärkt auch Aufträge wohlhabender Immobilienbesitzer aus Lima zur Gestaltung von Bauwerken an der peruanischen Küste ein und läuten die Rückkehr nach Peru und die Eröffnung eines weiteren Planungsbüros ein. Die beiden Büros werden unter dem Namen „Atelier Nord Sud“ zusammengefasst.

Sie kehren also in ihre Heimat zurück und erfassen das Territorium jetzt mit einer neuen Reife und aus einem neuen Blickwinkel. Die Wüstenlandschaft an der Küste und weniger strenge Bauauflagen erlauben nun auch radikalere Ansätze. In diesem Kontext setzen sie ihre Überlegungen zur Beziehung zwischen dem Konzept von „Ort“ zu den in Frankreich bereits realisierten Bauwerken fort, wie das Révélateur Urbain in Le Havre, die Sanierung des Museo Malraux in Le Havre (1999) und das Einkaufszentrum Gambetta (2003) in der Pariser “Périphérique”. „Wir glauben, dass die Fähigkeit des Menschen, die Dinge durch seine Bauwerke zu verwandeln, einer Aufwertung des Standortes dienen soll – unabhängig davon, ob dieser natürlichen oder künstlichen Ursprungs ist – und nicht der Zerstörung oder Abschwächung seiner Besonderheiten. Unsere Projekte sind häufig an extreme Auflagen gebunden, die sich aus dem Standort, der Naturlandschaft, den Erwartungen der Nutzer und wirtschaftlichen und technischen Faktoren ergeben. Daher ist ein globaler Strategieansatz erforderlich, damit diese Auflagen zur Inspiration von entsprechenden Projekten werden, die das Territorium angemessen bebauen. Diese Beziehung kann nur erzielt werden, wenn man die Merkmale des Standortes zu lesen versteht, um sein Potenzial und seine versteckten Eigenschaften in bestmöglicher Weise zu enthüllen.

Die Planung und der Bau dieser Häuser entlang der peruanischen Küste, die im Laufe von sechs Jahren eines nach dem anderen entstanden sind, hat uns die Möglichkeit gegeben, die Wirksamkeit dieser Strategie und unserer Planungshypothesen zu messen. Dieses Modell hat uns auch geholfen, unser Verständnis des Umfeldes und seiner Wechselbeziehung mit der Architektur zu klären. Die Distanz unseres Büros in Paris zu den Baustellen in Peru hat uns außerdem zu einer konstant kritischen Distanz beim Bau der Gebäude gezwungen.“

Ich habe den Eindruck, dass diese Gebäude und ganz allgemein Ihre Architekturobjekte eine Art von besonderer Aufmerksamkeit enthalten, die auf die Konstruktionen als Antwort auf die Land-schaft, die Fläche, das Licht und die geografischen und klimatischen Gegebenheiten ausgerichtet ist.

Kann man Ihren Ansatz so beschreiben?

Architektur hat uns immer schon als eine verzweigte Disziplin fasziniert, im Sinne der Fähigkeit über das Architekturobjekt hinaus ein Verständnis zu entwickeln und mit Landschaft, Stadt, gebietsspezifischer Logik und Klimaaspekten zu interagieren. Seit sich uns von Paris aus die Chance bot, die ersten Häuser in Peru zu planen, haben wir uns gefragt, welche die Grundvoraussetzungen für Bauten an der peruanischen Küste sein müssten, die aus einem langen, engen Wüstenabschnitt besteht, der einerseits vom Pazifik und auf der anderen von dem Hochgebirge der Anden eingefasst ist. Es handelt sich um eine sehr eigenartige Wüstenlandschaft, die sehr trocken und gleichzeitig sehr feucht ist, mit milden Temperaturen, wenig Sonneneinstrahlung und weder starken noch konstanten Winden. Und so war für uns klar, dass diese Eigenschaften den baulichen Ansatz beeinflussen sollten und mussten.

Nachdem das Bauwerk nun von der reinen Schutzfunktion (cobijo) entbunden ist, kann es sich auf den Austausch mit der Landschaft und der für die Bewohnbarkeit notwendige Intimsphäre besinnen.

Nach unserer Rückkehr nach Peru 2006 sind unsere nachfolgenden Projekte regelrechte Planungslabors geworden, in denen wir uns Fragen stellen zur Architektur als Antwort auf die Beziehung zwischen Landschaft, Klima, Intimität, technische Kompetenzen, Nutzung und Lebensqualität. Unserer Ansicht nach liegt die Antwort nicht in der Realisierung von Objekten in der Landschaft, sondern in der Errichtung von Volumen, die ein Mikrokosmos schaffen, welches seine Qualitäten enthüllt. Raum und Licht sind für dieses Mikrokosmos zwingend notwendig.

Die Formen Ihrer Bauwerke tendieren eher zur Reduktion und Abstraktion. Beispielhaft dafür ist das Lugar de la Memoria, dem Museum des Gedenkens mit Ausstellungssälen, einem Dokumentationszentrum und einem Auditorium, das aus einem 2010 gewonnenen Wettbewerb hervorgegangen ist und 2016 mit dem renommierten Oscar Niemeyer Preis ausgezeichnet wurde. Hintergrund war unter anderem, einen Ort der Erinnerung zu schaffen für die über 75.000 Toten zwischen 1980 und 2000, die dem gewaltsamen Konflikt der 1970 von Abimael Guzman gegründeten maoistischen Bewegung Sendero Luminoso zum Opfer gefallen sind. Eingebettet zwischen der Stadt und dem Ozean mutet das Gebäude wie eine geometrische Klippe aus Beton an, die in die Landschaft eingelassen wurde.

Die Integration der Landschaft erfolgt auf zwei Ebenen: einmal über die Geometrie, welche die Form bestimmt, mit der die Besiedlungsstrategie umgesetzt wird. Zum Glück haben wir Vorbilder wie unsere Ahnen in dieser Gegend gesiedelt haben und die präkolumbianischen Ruinen sind für uns eine Quelle der Inspiration: nicht als historisches Geschehen, noch als Stil, sondern als eine planerische Strategie für die gleichen Herausforderungen, mit denen wir heute konfrontiert werden. Plattformen und Einfriedungen sind oft Teil unserer Projekte, genauso wie bei ihren präkolumbianischen Vorbildern. Und so muten unsere Gebäude an, als seien sie aus dem Boden empor gewachsen und nicht auf ihm aufgelegt oder als Kontrast zur Schwerkraft abgehoben. Das Gebäude ist Teil des Grundes, der ausgehoben wurde, um Lebensräume frei zu legen. Uns gefällt die Vorstellung, dass wir wie Archäologen arbeiten, die in den Dünen der Wüste graben, um dort die Überreste von Bauten frei zu legen, die eigentlich ein Manufakt aus Erde sind. In unseren Projekten ersetzt das Wegnehmen den herkömmlichen Prozess des Hinzufügens. Konzeptuell entsteht das Volumen nicht durch die Verwendung von Modulelementen wie Ziegel, Balken, Säulen, sondern wird als bereits existente Masse betrachtet, die ausgegraben wird.

In Ihren Projekten ist die Verwendung von Naturbaustoffen und ein nachhaltiger Ansatz deutlich. Welche Baustoffe bevorzugen Sie? Haben Sie je Keramik verwendet?

Die Baustoffe, die wir verwenden, erfüllen wirtschaftliche und technische Auflagen sowie das Bestreben ein einheitliches Material zu verwenden, das das bestehende Volumen, das ich beschrieben habe, sichtbar macht. Beton hilft uns, die materielle Geschlossenheit zu finden, die der Idee einer Ausgrabung aus dem Boden entspricht. Außerdem ist Beton der meist verwendetet Baustoff, denn in Peru gibt es keine lokalen Baustoffe wie Holz oder Stein. Wir bauen mit Sand und Kies! Allerdings haben wir auch wertvollere Baumaterialien verwendet, vor allem für Hauptwohnsitze, in denen Keramikmaterial eindeutige Vorteile hat, langlebig und pflegeleicht ist.

Biographie

Sandra Barclay, geboren 1967 in Lima, macht ihren Abschluss an der Hochschule Ricardo Palma in Lima und setzt ihre Studien dann an der Ecole d‘Architecture in Paris-Belleville fort. Jean Pierre Crousse, geboren 1963 in Lima, erhält sein Diplom an der gleichen Hochschule in Lima und studiert anschließend an der Technischen Hochschule in Mailand. Beide haben einen Master in Landschaftsgestaltung der Universität Diego Portales in Santiago de Chile. Jean Pierre Crousse ist außerdem Forscher im South America Project, das unter der Schirmherrschaft der Harvard Universität steht.

1994 gründen sie ihr Architekturbüro Barclay & Crousse in Paris und 2006 öffnen sie ihr Büro in Lima. Ihre Werke wurden mit zahlreichen internationalen Auszeichnungen gewürdigt, darunter der zweite Preis für das beste Projekt auf der 4. Iberoamerikanischen Biennale für Architektur, der erste Platz für lateinamerikanische Architektur der 14. Internationalen Biennale für Architektur in Buenos Aires und der CICA Preis 2013 des internationalen Gremiums der Architekturkritiker. Ihre Planungsarbeit wechselt sich ab mit Lehrtätigkeiten an verschiedenen Hochschulen, wie Paris, Bogotá, Sanitago de Chile und Santa Fe in Argentinien. Seit 2006 haben beide eine Professur in Lima an der Pontificia Universidad Católica in Perú. Zu ihren Projekten zählt die Planung aller Arten von Bauwerken: von Privathäusern zu Bürogebäuden, von Mehrfamilienhäusern zu Theatern. Vor kurzem wurden sie mit dem Oscar Niemeyer Preis 2016 für das Projekt Lugar de la Memoria ausgezeichnet.