Begegnungen mit Versace | von Maria Teresa Rubbiani

Agostino Salsedo ist ein Keramiktechniker, der sein gesamtes Arbeitsleben in der Keramikindustrie verbracht hat. Für den Keramikdistrikt von Sassuolo ist Agostino vor allem „Versaces Mann“. Salsedo nahm seine Tätigkeit bei Cerdisa, einem der ältesten Keramikhersteller in Sassuolo, der 1959 gegründet wurde, im Alter von 40 Jahren auf.

Der in Tunis geborene, von italienischen Eltern abstammende Salsedo ist einer der vielen Keramiker, die am Istituto Ballardini in Faenza ausgebildet worden waren und zu deren Lehrern Künstler wie Angelo Biancini und Carlo Zauli gehörten. „Zwischen 1980 und 1995 habe ich Versace regelmäßig persönlich getroffen“, erzählt Salsedo. „Mein Arbeitgeber hatte mich als Kontaktperson für die Beziehungen zu Versace eingesetzt. Versace wollte nur eine einzige Person als Ansprechpartner und das war ich.“

Im Bild oben: Porträt von Gianni Versace (aus dem Fotoarchiv der Fachzeitschrift CER il giornale della ceramica); Seite eines alten Cerdisa-Katalogs der Produktlinie Versace; Originalentwurf von Gianni Versace für Cerdisa

Salsedo erinnert sich an Versace als extrovertierte, temperamentvolle und vor Ideen sprühende Person: „Wenn er einen Einfall hatte, musste ich ihn prompt notieren, denn er dachte sehr schnell.  Er konnte sofort eine komprimierte Übersicht seiner Vorstellungen ausarbeiten“. Versace ließ Salsedo dann unverzüglich Stoffmuster aushändigen, die ihn für die Entwicklung eines Dekors inspiriert hatten, ebenso Skizzen, die die Grafiker des Modehauses von Hand anfertigten. Diese Skizzen dienten als Vorlage für die Gestaltung der Produktlinie Versace.

(Im Bild unten: „Olimpia”, Serie Marmi, Fliese aus der Produktion von Cerdisa, Fiorano Modenese (MO). 1980, glasierter Cottoforte mit Siebdruckdekor, 20×30 cm. Aufbewahrt im Dokumentationszentrum der italienischen Keramikindustrie in Sassuolo (MO).

Das Zeugnis der Zusammenarbeit zwischen Cerdisa und Versace ist nur ein Beispiel aus der großen Menge an Material, das im Rahmen des Projektes Mater Ceramica zusammengetragen wurde. Dieses nationale Projekt bildet den Ausgangspunkt für ein Referenzzentrum der italienischen Keramikkultur. Das durch das Ministerium für Wirtschaftsförderung finanzierte Projekt bezieht alle Produktionsbereiche der italienischen Keramik ein – Industrie, Handwerk und Kunst. Es hat das ehrgeizige Ziel, die vielen in Italien existierenden Keramikkulturzentren durch das Zusammentragen und Aufbereiten von Informationen sowohl zu moderner Keramik wie auch zu historischen Materialien miteinander zu verknüpfen und mehr Sichtbarkeit zu verleihen. Dem Projekt Mater Ceramica ist es zu verdanken, dass verschiedene Forscher im Zeitraum von 2017-2019 eine Vielzahl von Daten und Informationen erfasst, ins Netz gestellt und eine Datenbank geschaffen haben, in der die georeferenzierten Daten der Produktionszentren abrufbar sind. Die Einträge umfassen rund 3000 Handwerksbetriebe, 500 Industriebetriebe mit historischen und aktuellen Daten, über 4000 Industrieprodukte (Keramikfliesen ab Anfang des 20. Jahrhunderts), 2000 Autoren (Architekten, Keramiker, Designer und Künstler), rund 50 Städte mit eigener Keramiktradition und Touristikrouten zum Thema Keramik, 150 Keramikmuseen in ganz Italien, die 10 Forschungszentren auf nationaler Ebene sowie die 54 Fachschulen für Keramik.

Dieser riesige Datenschatz ist im Portal von Mater Ceramica zu finden. In Zusammenarbeit mit den Partnern des Projektes – Confindustria Ceramica, Associazione Città della ceramica (AiCC), Museo Internazionale della Ceramica in Faenza (M.I.C.) und Centro Ceramico – sind hieraus mehrere zweisprachige Publikationen in Italienisch und Englisch entstanden.

Der von Vittorio Amedeo Sacco herausgegebene Band Ceramics through time nimmt den Leser auf eine Reise durch jahrhundertealte Keramiktraditionen mit. Er bietet einen reich bebilderten Überblick über Keramik in der Architektur der vorindustriellen Zeit und über das Keramikdesign für Wohnbereiche.

Ausschließlich den keramischen Oberflächen gewidmet ist der Atlas of italian ceramics, der sich mit der Entwicklung der industriellen Keramikprodukte von der Nachkriegszeit bis heute befasst. Fulvio Irace, Dozent an der Technischen Hochschule in Mailand, wurde mit der Herausgabe und einer kritischen Studie betraut, die in der Publikation enthalten ist, mit dem Titel From tiles to surface: an italian story. Irace geht in seiner Studie auf die Entwicklung des Produktes in Bezug auf Technik, Ästhetik und Gebrauch ein und stellt die erheblichen Veränderungen heraus, die im Laufe der Jahrzehnte eingetreten sind. Er unterstreicht die enge Verbindung der italienischen Keramikindustrie mit ihrem soziokulturellen Umfeld und ihren Stellenwert innerhalb der Geschichte des italienischen Designs und des „Made in Italy”. Das Werk wartet zudem mit verschiedenen Infografiken zu Autoren, technischer Entwicklung und Wirtschaftsdaten auf und beinhaltet eine Auswahl von rund einhundert der in Mater Ceramica katalogisierten Produktdatenblätter aus 70 Jahren Produktionsgeschichte von 1945 bis heute. Schwerpunktthemen des Bandes sind das Verhältnis der Keramikindustrie zur Werbung in Fachzeitschriften (Maria Teresa Feraboli), die Zusammenarbeit mit Modedesignern (Maria Canella), die Zusammenarbeit mit Künstlern (Elena Dellapiana) und die technische Weiterentwicklung (Giorgio Burzacchini).

Das Projekt Mater Ceramica führte darüber hinaus zur Veröffentlichung des Keramikstädte-Reiseführers Le città della ceramica, herausgegeben vom Touring Club Italiano, in dem alle touristischen Informationen und Reiserouten in Italien rund um das Thema Keramik zusammengetragen wurden.

Ergänzt wird die Reihe der Publikationen durch einen Band zum Thema Keramikhandwerk La ceramica artistica in Italia und ein italienisch-englisches Glossar mit Fachterminologie aus Keramikindustrie und Keramikkunst.

Mater Ceramica gehört zu den innovativsten Projekten im Bereich Markenerbe, wobei hier unter Marke nicht die einzelne Marke eines Unternehmens zu verstehen ist, sondern generell Keramik „Made in Italy“.

 

 

April 2020