Keramik in der sakralen Architektur | von Olivier Namias

Als erste Architektur, die von jeder aufstrebenden Zivilisation entwickelt wurde, berührt sakrale Architektur eine grundlegende Dimension der Menschheit. Die vermehrte Abkehr von Religion im Abendland hat uns unlängst diese historische Realität vergessen lassen: Um Gotteshäuser herum wurden Gemeinschaften, die Identität und das gemeinsame Gedächtnis einer Gesellschaft aufgebaut, und auch heute noch bilden sich dort Gemeinschaften. Durch die Materialisierung von Transzendenz verkörpern religiöse Bauwerke eine reine Architektur, die darauf abzielt, durch bauliche Strukturen mit den Nutzern in Kontakt zu treten. Licht, Raum, Monumentalität, Spiritualität werden in unterschiedlichsten Formen und Materialien inszeniert. Das Gold und der Marmor barocker Kirchen und die Glasfenster gotischer Kathedralen kommen einem sofort in den Sinn, wenn man an die Größe und die Pracht religiöser Räume denkt. Auch Keramik ist in dieser Hinsicht ein charakteristisches Material. Sie findet sich in so majestätischen Gebäuden wie der Hagia Sophia in Istanbul. Vor allem die muslimische Architektur hat Keramikfliesen erfolgreich genutzt, um Oberflächen mit glanzvollen, leuchtenden und unzerstörbaren Motiven zu versehen. Die Portugiesen haben die arabische Tradition übernommen, um Kirchen und Klöster mit Azulejos zu bekleiden. Dort überliefern bemalte Keramikfliesen die großen Mythen der katholischen Religion in didaktischer Weise in Form von Bildern.

Der technische Fortschritt und erweiterte Anwendungsbereiche lassen Keramik mehr als je zuvor zu einem modernen Material für die Schaffung von Kultstätten werden. Denn Keramik ist das perfekte Werkzeug zur Ausschmückung, sei es für üppige, sei es für minimalistische Ornamente. Fliesen bieten enorme Ressourcen für die Gestaltung. Dekore lassen sich nach Maß anfertigen. Zahlreiche Möglichkeiten der Kombination und Verlegung lassen keinerlei Monotonie aufkommen. Korrespondierende und kontrastierende Elemente bieten Planern eine Vielzahl an Möglichkeiten und geben dem allzu oft vernachlässigten Begriff der Komposition seine Bedeutung zurück: durch die Wahl von Motiven, Dimensionen, Geometrien und deren Anordnung. Oftmals entstehen aus den einfachsten Verlegearten die stärksten Dekorationen. Lediglich durch zwei Farben lässt sich beispielsweise ein Schachbretteffekt erzielen. Durch das Spiel mit unterschiedlichen Größen und Geometrien kann dieser Effekt beliebig komplex gestaltet werden. In modularer Art und Weise lassen sich Keramikfliesen hervorragend nutzen. Durch kleine Keramikelemente, die im menschlichen Maßstab der Größe einer Hand oder eines Fußes entsprechen, können monumentale Wände entstehen. Modulare Keramik begünstigt damit eine allegorische Beziehung zwischen dem Menschen und dem Göttlichen, zwischen dem Einzelnen und der Einheit, sei es am Boden, sei es an der Wand.

Zeitgenössische Keramik ist ein „Chamäleon“. Sie ist in der Lage, viele Materialien optisch zu imitieren. Dabei bleibt sie sich selbst treu, denn sie behält ihre unvergleichlichen Eigenschaften unverändert bei: Frostbeständigkeit, Unveränderlichkeit, Stabilität und mechanische Festigkeit. Mit Fliesen und Feinsteinzeug ist es möglich, Oberflächen zu schaffen, die optisch Marmor, Holz, Naturstein oder Beton entsprechen, aber weniger Pflege erfordern und eine längere Lebensdauer aufweisen. Wird ein Material durch ein keramisches Äquivalent ersetzt, so lassen sich die Grenzen des Originals umgehen, beispielsweise die Anfälligkeit gegenüber Wasser bei Holz und Stein, die Porosität von Beton und die Oxidationen bei einigen Stählen. Es lassen sich aber auch vorab Patina-Effekte erzielen, die bei Materialien wie Kupfer erst nach mehreren Jahren auftreten. Keramik macht es möglich, den Faktor Zeit zu eliminieren und sofort ein gealtertes, unveränderliches Aussehen zu erhalten. Zahlreiche religiöse Denkmäler auf der ganzen Welt erfüllen genau diesen Ewigkeitsanspruch, indem sie ihr Aussehen über die Jahrhunderte konservieren.

Die in jüngster Vergangenheit auf den Markt gebrachten Großformate entsprechen dem Wunsch der zeitgenössischen Architektur nach Materialität. Feinsteinzeugplatten, die eine Größe von 3,2 x 1,6 Metern erreichen, wirken wie aus einem Steinbruch gewonnene Natursteine oder wie vor Ort gegossener Beton. Fugenbilder, die für traditionelle Keramik typisch sind, gibt es bei diesen Großformaten nicht. Noch wichtiger als bei kleinen oder mittelgroßen Fliesen (30 x 30 Zentimetern) ist die Oberflächenbehandlung: matt oder glänzend, rau oder glatt? Die Vielfalt der Oberflächen ermöglicht auch Lösungen, die mit dem Thema der Helligkeit spielen, einem zeitlosen, interkulturellen Symbol für die göttliche Präsenz.

Die Verwendung von Keramik beschränkt sich aber nicht nur auf den Innenbereich. Byzantinische oder lombardische Kirchen verdanken ihren imposanten Charakter den Backsteinen, sowohl in ihrer Struktur als auch in ihrer Ornamentik. Der Reichtum der Ziegel wächst stetig und ermöglicht es heute, auf einfache Weise, verschiedene Formate in einer Vielzahl von Farben zu erhalten, von den erdigsten bis zu den anspruchsvollsten glasierten Produkten mit scharfen oder gebrochenen Kanten. Farbmischungen und die Kombination von Ziegeln mit anderen modularen Materialien wie Glasbausteinen eröffnen Planern vielfältige Möglichkeiten. Ziegel sind aber nicht die einzige Möglichkeit, keramische Produkte im Freien zu verlegen. Seit einigen Jahren kann Feinsteinzeug bei hinterlüfteten Fassaden mit großen Formaten eingesetzt werden: bündig, auf schrägen Ebenen verlegt, mit wechselnden Farben. Und Architekten denken bereits über diese Technologien hinaus, so effizient sie auch sind. In jüngsten Installationen demonstrieren sie beispielsweise, wie sich Keramikwände dreidimensional einsetzen lassen, wie sie sich öffnen, um Licht einzulassen und die Innenräume zu modulieren. In Anlehnung an das alte Thema der Lochziegelwände sind in Entwürfen neue Installationssysteme angedacht, die die Aufhängung von Keramikelementen an Kabelnetzen oder deren Befestigung an Gewindestangen ermöglichen. Traditionelle Systeme überdenken und die Grenzen der Keramik verschieben: Dies könnte der Weg kreativer Architekten sein, um sich dem privilegierten Experimentierfeld sakraler Bauten zu stellen.

 

September 2020