Gegenstände zur Anregung der Phantasie | von Alessandra Coppa

Das Gespräch mit Gabriele Chiave findet zwischen zwei Flügen auf dem Weg zurück nach Amsterdam von Doha statt. Dort hat er als Kreativdirektor von Marcel Wanders die Innenausstattung des neuen Luxushotels Mondrian Doha, einem Beispiel zeitgenössischer arabischer Traditionen, entwickelt und umgesetzt. Wir kennen uns vom Workshop De Truffle, den ich für Alessi durchgeführt habe; Thema des Workshops war die Entwicklung eines Objektes, das den weißen Trüffel von Alba präsentieren, schneiden und aufbewahren sollte und Chiave erhielt eine Ehrenerwähnung für sein Projekt.

Gabriele steht an der Schwelle der 40, sieht aber bereits auf eine umfassende internationale Erfahrung zurück.

“Ich bin Italiener, aber in Frankreich geboren und seit meiner Geburt konstant auf Reisen, weil meine Familie, Vater, Mutter und Schwester, allesamt Diplomaten sind. Ich bin an den verschiedensten Orten der Welt groß geworden, in Afrika für fünf Jahre, in Südamerika für acht und danach in Rom.“

Wie hat das Dein Designverständnis beeinflusst?

Meine Vision von Design und mein kultureller Ansatz bei einem jeden Projekt sind zweifellos durch die Reisen beeinflusst, denn ich glaube, dass Projekte an Menschen, Kultur und unterschiedliche Realitäten gebunden sind. Meine Leidenschaft für Design ist vielleicht auch darauf zurückzuführen, dass sowohl mein Vater als auch meine Mutter sich immer für Antiquariat begeistert haben und Möbel und Objekte in aller Welt kauften, von Syrien bis Venezuela und Afrika. Mein Vater sammelte auch moderne Kunstgegenstände und unser Haus füllte sich mit Objekten, die ich manchmal zerbrach in der Hoffnung, dass es keiner merken würde. In Mailand habe ich schließlich am Europäischen Designinstitut studiert und danach in verschiedenen Büros in der Stadt gearbeitet, darunter bei Marc Sadler, wo ich dreieinhalb Jahre mit Paolo Lucidi und Orodardo Fioravanti arbeitete.

Vom Studium zu Marc Sadler, gibt es da einen gemeinsamen Nenner?

Die Hochschule hat mich auf einen vorwiegend funktionalen, industriellen und werkstofftechnischen Ansatz des Projektes vorbereitet. Die Erfahrung bei Sadler, der ein Erneuerer von Technologie und Funktionen ist, hat auf dieser Grundlage aufgebaut, denn sein Büro war das europäische Forschungszentrum der Ideal Standard. Wir entwickelten Armaturen, Sanitärkeramik … man könnte es als groß angelegte industrielle Übung beschreiben. Das war für mich die erste wichtige Erfahrung im Industriedesign.

Wie bist du zu Alessi gekommen?

Während meiner vier Jahre bei Sadler habe ich gemeinsam mit Laura Pollinoro die Workshops der Alessi organisiert. Diese dauerten eine Woche und es wurden 10-15 Jungdesigner eingeladen, die sich mit unterschiedlichen Themen beschäftigten, von der Leichtigkeit von Stahl zum Lebensmitteldesign. Dazu wurden renommierte Designer zu Vorlesungen eingeladen. Alberto Alessi schaute sich die Projekte an und am Ende der Woche stellten wir die Arbeiten aller vor. Der Workshop schloss mit einem Rundgang durch das Werk ab, um einen Einblick in die verschiedenen Produktionsphasen zu bekommen.

Du bist auch zu einem “renommierten Designer” der Alessi geworden…

Alessi ist meine zweite Familie. Nach einem dieser Workshops hat Alberto Alessi mich nach meinen Vorschlägen gefragt. Daraus ist in zwei Tagen Tripod, ein Topfuntersatz entstanden. Das war mein erstes „Objet bijoux“; ich habe Tripod als ein Dekorationsobjekt für die Küche entwickelt.

Das ist ein ganz anderer Projektansatz im Vergleich zu deinen Anfängen im Industriedesign…

Für mich muss die Funktion eines Objektes gegeben sein. Gleichzeitig möchte ich mit dem Design etwas ganz Persönliches ausdrücken. Die Entwicklung eines Objektes ist wie einen Brief oder ein Buch schreiben. Design vermittelt eine Geschichte, beschreibt einen Prozess, wertet einen Brand auf. In das Designprojekt sollen Details einfließen, die Teil unserer Erinnerungen und unserer Kultur sind, daher ist die Funktion nicht immer unmittelbar erkennbar. Schaut man sich Tripod oder den Apfelsinenschäler Apostrophe, das Tablettenetui Chestnut, den Messerschärfer Aramis oder die Käsereibe Cheeseplease an, dann sieht man Objekte, die durch ihre weichen Formen ansprechen, unabhängig von ihrer Funktion. Wir regen die Phantasie der Menschen vor einem Schaufenster an oder wenn sie diese zum ersten Mal unter Tausenden anderen Objekten entdecken. Es sind Gegenstände, die Neugier erzeugen, die anregen zu fragen: Was ist das hier? Meine Absicht ist es diesen Objekten ein solches „Geschenk“ zu machen, einen Überraschungseffekt, wodurch sie auch gekauft werden könnten, um zu einem Gesprächsthema zu werden. Dem ersten, eher technischen und funktionalen Ansatz ist ein spielerischer gefolgt.

Wie ist es zur Kooperation mit Marcel Wanders gekommen?

2007 bin ich nach Holland gezogen und für Alessi eine Art Verbindungsoffizier zwischen Marcel Wanders und dem Unternehmen geworden. Angefangen hat es mit einem Projekt für Besteck der Alessi für die Fluggesellschaft KLM; in den letzten 10 Jahren haben wir mit Marcel über 200 Produkte für Alessi geschaffen und im Januar kommen die neuen Kollektionen Circus und Dressed. Circus ist eine Serie bunter und fröhlicher Objekte, in denen die zeitlose Faszination der Zirkuswelt einfließt und die ich persönlich begleitet habe. Dressed führt Dekor wieder ein in das Alessi Tischgeschirr für besondere Gelegenheiten. Die gesamte Kollektion durchzieht das Thema Dekor, das gelegentlich versteckt ist, wie beispielsweise im Besteck, wo es sich am unteren und damit nicht sichtbaren Rand befindet . Vergangenheit überschneidet sich mit der Gegenwart, dem Kulturerbe, einer Idee, mit der die Schönheit der Vergangenheit in die Gegenwart getragen wird, um die Zukunft zu schaffen. Es ist ein bisschen wie der italienische Gegensatz zu Funktionalismus: Die Entdeckung ästhetischer Werte aus der Vergangenheit durch die Zelebration von Keramik mit Dekoren. Neben meiner Tätigkeit mit Wanders arbeite ich auch als freischaffender Designer weiter.

Die Kollektion Dressed scheint Teil eines etwas anderen Objektverständnisses zu sein als allgemein im italienischen Design.

In den vergangenen 10 Jahren bin ich mit Marcel zwischen Italien und Holland gependelt. Italienisches Design basiert auf einem industriellen Ansatz der Serienproduktion, holländisches Design steht der Kunst, limitierten Auflagen, Handarbeit wesentlich näher. Nachdem ich 10 Jahre in Mailand gearbeitet hatte, kam ich mit meinen Überzeugungen aus der Industrie- und 3D-Welt nach Amsterdam und landete bei Marcel. Der hat mich drei Monate lang ausschließlich Produkte von Hand fertigen lassen! Ich bin völlig aus meinem Konzept, meinen Vorstellungen gebracht worden und habe eine ganz neue Welt entdeckt. Marcel suchte jemanden, der in der Lage war, mit italienischen Kunden und ihrer Weltanschauung zu kommunizieren und nach sechs Monaten habe ich die Leitung des Designteams übernommen, das Produktlinien für Cappellini, Biasazza, Ceramica Bardelli betreut.

Hast Du auch mit Keramikmaterial experimentiert?

Keramik ist ein Material, mit dem ich sehr viel gearbeitet habe, es ist einer der reinsten, geschichtsträchtigsten, vielseitigsten und verformbarsten Werkstoffe. Wir haben Fliesen, Badezimmerkollektionen, Mosaik geschaffen und zusammen mit Marcel Wanders eine Kollektion mit Keramikvasen für Moooi kreiert, die alle von der Royal Delft dekoriert wurden, dem Original-Hersteller seit 1653 der wunderschönen Delfter Keramik. Diese Kollektion interpretiert und revitalisiert das Delfter Blau mit neuen Formen und Dekoren. Für Ceramica Bardelli haben wir gemeinsam mit Marcel eine Keramikfliesenkollektion für Innen kreiert, die aus komplett von Hand dekoriertem Zweibrand auf mattem Untergrund besteht.

Seit wann beschäftigst Du Dich mit Innenarchitektur?

Bei Wanders habe ich mich fünf Jahre lang mit Produkten beschäftigt, danach bin ich Kreativdirektor geworden und habe mit ihm den gesamten kreativen Ansatz des Büros begleitet. Hier habe ich mich auch zum ersten Mal mit Innenarchitektur für Hotels und auch der Brandkommunikation auseinandergesetzt. Jetzt betreuen wir Hotels, wie das Mondrian in Doha, wo wir uns Anregungen von den geometrischen, arabischen Mustern der riesigen Säulen mit Goldenen Eiern, einem blühenden Baum des Lebens, einer Videoinstallation mit dem Flug eines Falken, einer Riesenwasserpfeife, Teppichboden mit geometrischen Mustern, dekorierten Fensterfronten, Keramik und Mosaik geholt haben.

Was haben Sie von Marcel Wanders gelernt?

Marcel hat mir Perspektiven eröffnet, die das Ergebnis seines multidisziplinären Ansatzes und breiten Vision sind, die mich stark geprägt haben. Ich liebe die Vielfältigkeit meiner Arbeit, ich brauche kulturelle Heterogenität, unterschiedliche Denkansätze. Die Welt, die Marcel mir eröffnet hat, entspricht genau diesem Bedürfnis, denn er findet immer neue Wege, um den Unternehmen einen zusätzlichen Mehrwert durch die Kombination von Möglichkeiten und einer unendlichen Vielfalt zu geben.

 

Dezember 2017

 

BIOGRAFIE

Gabriele Chiave (Metz, 1978), ist Sohn zweier Diplomaten und wächst in verschiedenen Ländern und Städten auf wie Dakar, Caracas, Buenos Aires, Mailand und Rom. In Rom promoviert er in Französisch und macht anschließend an der Internationalen Europäischen Designhochschule seinen Bachelorabschluss als Industriedesigner. In den folgenden fünf Jahren realisiert er als externer Designer zahlreiche Projekte für Emergency, Rotari, Epson, Toshiba und Pirelli. Zu seinen wichtigsten Kooperationen zählt das Architekturstudio von Marc Sadler und renommierten italienischen Unternehmen wie Alessi, für die er sieben von LPWK/Alessi organisierte Workshops betreut hat, sowie Dainese, Foscarini und Serralunga. Seit 2007 arbeitet er bei Marcel Wanders als Leiter des Kreativteams gemeinsam mit Marcel Wanders und Karin Krautgartner. Hier betreut er alle Produkt- und Innenausstattungsprojekte und ist als Artdirektor für verschiedene bekannte Brands tätig. Gabriele Chiave ist Liebhaber von Kunst, Jazzmusik und leidenschaftlicher Reisender.